Fotografie als Skulptur zweiter Ordnung

Prof. Dr. Kristin Marek, Bauhaus Universität Weimar

Fotografie und Skulptur scheinen unzweifelhaft vollkommen unterschiedliche künstlerische Gattungen zu sein. Während die Fotografie als optische Bildtechnik dreidimensionale Räumlichkeit in Zweidimensionalität übersetzt, arbeitet die Bildhauerei gerade an und mit Räumlichkeit. Kaum eine Grenzziehung ist darum vermeintlich so klar und einfach möglich wie jene zwischen Skulptur und Fotografie. Fotografie verflacht und entkörpert, Skulptur verräumlicht und schafft Körper. Beim Vergleich auf der Ebene der Verfahrensweisen treten allerdings erstaunliche Parallelen hervor: plastizierend (hinzufügend) oder skulpturierend (wegnehmend) wird nicht nur im Bereich der Bildhauerei gearbeitet, sondern auch in der Fotografie.

 

Gabriele Engelhardt, die sowohl Bildhauerei als auch künstlerische Fotografie studiert hat, interessiert sich in Ihren Arbeiten für eben jene Verflechtungen der beiden Gattungen. So verschränkt sie in der 2016 entstandenen Serie „Kehler Berge“ bildhauerisches mit fotografischem Arbeiten und schafft Bilder eindringlicher Plastizität. Dabei ist die Serie „Kehler Berge“ großformatiger Bilder von je 260 x 520 cm in ihrem Sujet zunächst ein Ergebnis der Auseinandersetzung Engelhardts mit der Stadt Kehl, die von einer bemerkenswerten Zweiteilung ihres Stadtgebietes gekennzeichnet ist. Beim Blick auf den Stadtplan wird man gewahr, dass der dortige Binnenhafen mit seinen etwa 4000 Beschäftigen nicht nur einer der größten lokalen Arbeitgeber ist, sondern auch nahezu die gesamte nördliche Hälfte des Stadtgebietes einnimmt – eine Stadthälfte allerdings, die in der mentalen Wahrnehmung des innerstädtischen Lebensraums kaum eine Rolle spielt. Das eigentliche Zentrum Kehls bildet der in der südlichen Hälfte des Stadtgebietes gele-gene Marktplatz, um den herum sich die Fußgängerzone mit bürgerlichen Institutionen wie Stadthalle oder Rathaus und auch die Hochschule Kehl befindet. Demgegenüber bildet das nördliche Hafengebiet ein „Heterotop“, also einen anderen Raum oder Ort, an dem nach Michel Foucault, in eigntümlicher  Abkehr und oftmals Verkehrung der vorherrschenden Raumwahrnehmung, Parallelwelten mit durchaus utopischem Potential ihre Heimat finden (1).

 

Gabriele Engelhardt hat auf dem Gebiet des Kehler Binnenhafens mehrere Wochen recherchiert, die dortigen Arbeiten beobachtet und begleitet. Dabei blieb ihr Blick an zahllosen Haufen und Hügeln haften, jenen titelgebenden ,Kehler Bergen‘, bestehend aus
einer Vielzahl an Materialien und unterschiedlichsten Formen, deren Herkunft Kehl in ein weltumspannendes Netz einflicht. Dass in Kehl die ganze Welt lagere, wie es ein Hafenarbeiter treffend und nicht ohne Stolz beschrieb, ist darum keine Übertreibung, denn tatsächlich lebt der Binnenhafen Kehl von internationalem und globalem Handel. Hier findet sich Industrieschrott und Kohle aus allen Teilen der Welt, aus Russland, Polen, Kolumbien und China. Viele dieser unterschiedlichen Materialen lagern zu Haufen und Hügeln geschoben, die im Prozess des Anlieferns, Ablieferns, Weitertransportierens und Verschiebens beständig bewegt, verändert, neu gehäuft, geformt und geschichtet, ver-breitert oder verschmälert, erhöht oder abgetragen werden. Die schier endlose Bewegung von Dingen, die einer eigenen ökonomischen Logik unterliegt, lässt dabei beständig neue Hügelformen und Materialformationen entstehen. Betrachtet man diese vielfältigen Formationen anstatt mit ökonomischen nun mit einem ästhetischen Blick, treten deren skulpturale Eigenschaften in den Vordergrund. Jene Blickverschiebung, das Interesse für die ästhetischen Momente des menschlichen Formens und Gestaltens von Landschaft und Umwelt, bildet generell ein Leitmotiv der künstlerischen Arbeit Engelhardts, die sich bereits in zahlreichen Serien künstlerischer Fotografie mit den skulpturalen Aspekten von Veränderungen der Landschaft durch menschliches Handeln auseinander setzte. Ihr Blick zielt dabei auf die ästhetischen Qualitäten der Gestalt- und Formbildung, als Neben- produkt eigentlich ökonomisch und technisch motivierter Arbeiten, und damit auf die bildhauerischen Momente bei der Umgestaltung von Landschaft. Mit solch ästhetischem Blick sind auch die Aufnahmen einzelner Materialberge auf dem Gelände des Kehler Binnenhafens entstanden, Haufen aus Stahlgestängen, Eisenbahnschienen, auch Kohle, Spat, Kies oder Pflastersteinen. Monumental, von überwältigender Präsenz und erhabener Ruhe liegen die Materialberge auf den Bildern.

 

Doch was zeigen die Bilder tatsächlich? Wird hier lediglich das dokumentiert, was ohnehin da ist? Wird nach jenem spezifischen Moment im Prozess der Arbeit gesucht, in der die Fülle des Materials sich mit einem Grad an Formgebung und Raumorganisation
verbindet und skulpturale Qualität entsteht? Die rhetorischen Fragen weisen bereits auf die Bruchstellen der Annahmen hin. Denn was sich in Engelhardts Bildern zeigt, ist eine mindestens doppelte Konstruktion und die Inszenierung eines künstlichen Blicks. Zum Einen, da jede Fotografie an sich bereits eine Konstruktion insofern ist, als jede Behaup-tung eines fotografischen „Es ist so gewesen“, von dem einst Roland Barthes sprach, den unter den Gesetzen der Optik tatsächlich übersetzenden und transformierenden Akt der Fotografie verschleiert. Bei aller Rede von dokumentarischer Fotografie, stellt sich schließlich die grundsätzliche Frage, ob doku mentarische Fotografie überhaupt möglich ist, beziehungsweise, welche externen Parameter eine Fotografie mit dem Verb dokumentarisch versehen? Eingedenk des technisch-medialen Apriori der Bilderzeugung ist jede fotografische Sichtbarkeit vor allem erzeugte Sichtbarkeit von eigener Evidenz. Dies trifft umso mehr auf die Arbeiten von „Kehler Berge“ zu, als die einzelnen Bilder aus bis zu 1000 Einzelaufnahmen zusammengesetzt und aufwendig bearbeitet sind, so dass sich schließlich immer mehrere Perspektiven auf ein und denselben Haufen zu einem Bild vereinen. In detailgenauer Bearbeitung wurden die Einzelaufnahmen miteinander verschliffen und dies in einem Verfahren, das der bildhauerischen Arbeit sehr gleicht. Modellierend wurden Bildteile hinzugefügt und skulptierend bestimmte Pixelmengen entnommen, geformt, angeordnet, verfärbt, so dass tatsächlich mehrere als eine homogene Perspektive erscheinen. Aus jener surrealen Vielansichtigkeit, jener Multiperspektivität und einer Detailschärfe, die ohne bildhauerische Bearbeitung des fotografischen Rohmaterials nicht möglich wäre, erklärtsich die hyperreale Präsenz und monumentale Erhabenheit in der die einzelnen Haufen im Bild erscheinen. Vom kleinsten Metallsplitter bis hin zu herumliegenden Zigarettenstummel sind Details herausgearbeitet, wie sie ohne Bildbearbeitung unmöglich darzustellen und zu erkennen wären. Was die Bilder zeigen, ist viel mehr als das bloße Auge sehen kann. Sie zeigen auch mehr, als eine bloße Kameraaufnahme zu sehen geben kann. Der Realitätsgehalt der Bilder, die Vorstellung, dass das, was zu sehen ist, tatsächlich so gewesen sein könnte, ist bildnerisch erzeugte Fiktion, die mit den medialen Strukturen der Fotografie arbeitet. Dabei gehen die Arbeiten in der bloßen Inszenierung des Dokumentarischen keineswegs auf. In der Art und Weise der Darstellung wird zudem die skulpturale Wahrnehmung der Haufen evoziert. Der einheitliche, graue Hintergrund, der den einzelnen Haufen als quasi freigestelltes Motiv präsentiert, die verflachende Schattenlosigkeit und die bildmittige Anordnung der Motive, lässt sie in ihrer spezifischen Objekthaftigkeit in den Vordergrund treten, deren Singularität und körperliche Präsenz den Aufnahmen etwas Porträthaftesverleiht. Dieser Wahrnehmung der Haufen als ästhetische Raumobjekte, als Skulpturen, entspricht auch die Arbeitsweise Gabriele Engelhardts, das „digitale Modellieren“, wie die Künstlerin sie bezeichnet. Was wir also sehen, wenn wir die Bilder betrachten, sind fotografische Skulpturen; oder anders ausgedrückt: skulpturale Bilder (digital modelliert) skulpturaler Bilder (maschinell erstellt). Sie sind somit Skulpturen zweiter Ordnung.

Photography as second-order sculpture

Prof. Dr. Kristin Marek, Bauhaus Universität Weimar

Photography and sculpture undoubtedly appear to be completely different artistic genres. While photography, as an optical imaging technique, translates three-dimen-sional space into two-dimensionality, sculpture works precisely on and with space. Hardly any demarcation is therefore supposedly as clear and simple as that between sculpture and photography. Photography flattens and disembodies, sculpture spatializes and creates bodies. However, a comparison at the procedural level reveals astonishing parallels: sculpting (adding) or sculpting (taking away) is not only used in sculpture, but also in photography.

 

Gabriele Engelhardt, who studied both sculpture and artistic photography, is interested in the interweaving of the two genres in her work. In her 2016 series “Kehler Berge”, for example, she interweaves sculptural and photographic work and creates images of haunting plasticity. The series “Kehler Berge” (Kehl Mountains) of large-format pictures, each measuring 260 x 520 cm, is initially a result of Engelhardt’s examination of the city of Kehl, which is characterized by a remarkable division of its urban area. Looking at the city map, one realizes that the inland port there, with its approximately 4000 employees, is not only one of the largest local employers, but also occupies almost the entire nor-thern half of the city – a half of the city, however, that hardly plays a role in the mental perception of the inner-city living space. The actual center of Kehl is the market square located in the southern half of the city area, around which the pedestrian zone with civic institutions such as the town hall or town hall and the Kehl University of Applied Sciences are located. In contrast, the northern harbor area forms a “heterotope”, a different space, as Michel Foucault described places where parallel worlds with utopian potential find their home in a peculiar departure from and often reversal of the prevailing perception of space (1).

 

Gabriele Engelhardt spent several weeks researching in the Kehl inland harbour area, observing and accompanying the work there. In the process, her gaze lingered on countless heaps and mounds, those ‘Kehl mountains’ that give the exhibition its title, consisting of a multitude of materials and the most diverse forms, whose origins weave Kehl into an exciting global network. The fact that the whole world is stored in Kehl, as one harbour worker aptly and not without pride described it, is therefore no exaggeration, as the inland port of Kehl actually thrives on international and global trade. Industrial scrap and coal from all over the world, from Russia, Poland, Colombia and China. Many of these different materials are stored in heaps and mounds, which are constantly moved, changed, repiled, moulded and layered, widened or narrowed, raised or removed in the process of delivery, removal, further transport and shifting. The sheer endless movement of things that are one’s own constantly creates new hill shapes and material formations. If you look at these diverse formations with an aesthetic rather than an economic eye, their sculptural qualities come to the fore. This shift in perspective, the interest in the aesthetic aspects of human moulding and shaping of landscape and the environment, is generally a leitmotif of Engelhardt’s artistic work, who has already explored the sculptural aspects of changes to the landscape through human activity in numerous series of artistic photography. Her focus is on the aesthetic qualities of the creation of form and shape as a by-product of economically and technically motivated work, and thus on the sculptural mo-ments in the transformation of landscape. The photographs of individual piles of material on the site of the Kehl inland harbour, piles of steel rods, railway tracks, coal, spar, gravel or cobblestones. Monumental, with an overwhelming presence and sublime calm, the mountains of material lie on the pictures.

 

But what do the pictures actually show? Are they merely documenting what is already there? Are we looking for that specific moment in the process of the work in which the abundance of material is combined with a degree of shaping and spatial organization to create a sculptural quality? The rhetorical questions already point to the breaking points of the assumptions. For what emerges in Engelhardt’s pictures is at least a double construction and the staging of an artificial gaze. On the one hand, because every photograph is in itself already a construction insofar as every assertion of a photographic “it was like this”, of which Roland Barthes once spoke, conceals the act of photography that actually translates and transforms under the laws of optics. For all the talk of documentary photography, the fundamental question ultimately arises as to whether documentary photography is possible at all, or rather, which external parameters give a photograph the verb documentary? Considering the technical-medial a priori of image produc-tion, every photographic visibility is above all a generated visibility of its own evidence. This is all the more true of the works in “Kehler Berge”, as the individual images are composed of up to 1000 individual shots and elaborately edited, so that ultimately there are always several pictures in one. The individual images were polished together with great attention to detail in a process that is very similar to sculptural work. Parts of the image were added in a modeling process and certain quantities of pixels were removed, shaped, arranged and discolored in a sculpting process so that several actually appear as a homogeneous perspective. This surreal multiperspectivity and sharpness of detail, which would not be possible without sculptural processing of the photographic raw material, explains the hyperreal presence and monumental grandeur with which the individual heaps appear in the picture. From the smallest metal splinter to the cigarette butts lying around, details have been worked out in a way that would be impossible to depict and recognize without image processing. What the pictures show is much more than the naked eye can see. They also show more than a mere camera shot can reveal.The reality content of the images, the idea that what can be seen could actually have been like this, is pictorially created fiction that works with the media structures of photography.At the same time, the works are by no means confined to the mere staging of the documentary. The sculptural perception of the heaps is also evoked in the way they are depicted. The uniform, gray background, which presents the individual heaps as quasi-exposed motifs, the flattening shadowlessness and the central arrangement of the motifs allow them to come to the fore in their specific objectlike quality, whose singularity and physical presence lend the photographs a portrait-like quality.This perception of the piles as aes-thetic spatial objects, as sculptures, also corresponds to Gabriele Engelhardt’s working method, “digital modeling”, as the artist calls it.So what we see when we look at the pictures are photographic sculptures; or to put it another way: sculptural images (digitally modeled) of sculptural images (created by machine).They are therefore second-order sculptures.